Stille. Zwischendurch unterdrückte Huster und Schniefer. Ich sage die Primzahlen auf. Bis 101. Nein. Du darfst jetzt nicht weinen. S. sitzt neben mir und die Tränen laufen ihr über die Wangen. Wie gerne würde ich sie trösten. Aber dann wäre es auch mit mir vorbei. Ich zwinge mich weiter zu zählen. 1, 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17..
Endlich kommt der Pfarrer herein. Er schwafelt etwas von Gott, Jesus und der Auferstehung. Davon dass sie eine unserer Schwestern war und dieses ganze Gedöns was Pfarrer eben sagen. Am liebsten würde ich aufstehen und ihn anschreien. "Sie kannten sie doch gar nicht. Sie haben keine Ahnung! Sie haben sie niemals kennengelernt. Sie wissen nichts über sie. Rein gar nichts!" Aber ich beherrsche mich und zähle weiter meine Primzahlen. Er sagt dann dass Mama und ich etwas vortragen werden. Ich lese den Text. Verhaspel mich. Ich zwinge mich nicht dort hin zu schauen um nicht zu weinen. Mama hat ihre Hand auf meinen Rücken gelegt. Als ich fertig bin ist sie dran. Sie hat geübt den Text zu lesen ohne zu weinen. Und sie schafft es fast. Schon nach den ersten beiden Zeilen rollen mir die Tränen über die Wangen. Sie hält tapfer durch und ich streichele ihren Rücken. In den letzten Zeilen fängt sie an zu stocken. Sie reißt sich ein letztes Mal zusammen und schafft es bis zum Ende. Dann fängt auch sie an hemmungslos zu weinen. Opa steht auf, nimmt uns in den Arm und wir stehen eine Weile so da. Schluchzend, arm in arm.
Wieder fängt der Pfarrer an zu reden. Wieder von wegen Wiedergeburt und dass Jesus sie jetzt zu sich nimmt. Ich höre ihm nicht mehr zu. Ich lasse die Tränen einfach kullern, sie hören nicht auf. Als der Pfarrer endlich fertig ist mit seinem Geschwafel ertönt das Lied was Mama, S. und Opa ausgesucht haben und 6 Männer stehen auf und gehen zum Wagen. S. neben mir schluchzt auf. Die Männer fangen an den Wagen aus der kleinen Kapelle zu schieben. Langsam. S. fängt hemmungslos an zu weinen. Sie blickt den Männern nach und sie sieht aus als würde sie am liebsten schreien "Nein! Nehmt sie nicht mit! Nehmt sie mir nicht weg! Lasst sie hier. Bitte!!!" Ihr Blick tut mir so weh und ich greife nach ihrer Hand. Sie sieht plötzlich so einsam aus. So verlassen und hilflos. Wie ein kleines Mädchen. Wir stehen auf und Folgen den Männern. Mamas Freund liest ein Gedicht von Herman Hesse vor. Stufen. Wieder schwafelt der Pfarrer vor sich hin und dann lassen sie sie in die Erde. Wir stehen da. Opa, S., ich und Mama. Wir halten uns an den Händen und weinen. Niemand sagt etwas. Nicht mal der plappernde Pfarrer. Sie lassen uns Zeit. Dann treten wir vor. Die Blume die auf unserem Platz in der Kirche lag werfen wir zu ihr runter.
Danke Oma.
Wir lieben dich, und werden es immer tun.